Im Gefängnistrakt gab es 103 Zellen, dazu 120 Büros für Verhöre der bis zu 120 Gefangenen. Jeder Gefangene hatte SEIN Büro, in dem er zu jeder Zeit, Tag und Nacht, verhört werden konnte. Das Verhör wurde von bis zu drei Stasioffizieren durchgeführt. Diese wurden nicht zufällig den Gefangenen zugeteilt, sondern speziell auf die Persönlichkeit des Häftlings hin ausgesucht und abgestimmt. Verhöre dauerten im Schnitt 25 Stunden pro Woche. Die Gefangenen wurden über alles aus ihrem Leben ausgefragt. Von der Geburt bis zur Verhaftung wurde über alles geredet. Während des Verhörs mussten die Häftlinge auf einem kleinen Hocker in der Ecke sitzen, die Hände unter den Schenkeln. Nur an Geburtstagen, an Weihnachten oder wenn sie etwas verraten hatten, durften sie auf dem gepolsterten Stuhl am Tisch Platz nehmen.

Bei Beginn seines ersten Verhörs forderte Mario: “Ohne meinen Anwalt sage ich nichts“, woraufhin ihn der Offizier niederbrüllte, dass er hier keine Rechte hätte und wohl zuviel Westfernsehen gesehen hätte. So ging das dann minutenlang weiter. Mario war erleichtert, weil er sich dachte, dass er mit so einem Proleten leicht umgehen könnte. Der konnte ihm gar nicht wehtun. Er baute eine unsichtbare Mauer zwischen ihm und sich auf und ließ alles an sich abprallen. Aber das war leider ein Irrtum, denn diesen Vernehmer sah er während der ganzen Haftzeit nur noch zwei Mal wieder. Am nächsten Tag saß er seinem Vernehmer für die nächsten Monate gegenüber, der das genaue Gegenteil war. Schlank, braun gebrannt, Maßanzug und eine Ähnlichkeit mit seinem Freund aus dem Westen. Und  vor allem war er freundlich. Dieser war viel Schlimmer als der Schreihals vom Vortag. Nach nur drei Tagen hatte Mario alles über die Flucht erzählt und dachte, sein Martyrium wäre nun beendet. Schließlich hatte die DDR ja die Schlussakte von Helsinki unterschreiben, wonach er seinen Wohnsitz frei wählen könne. Deshalb müssten sie ihn ja rauslassen, so dachte er.  Der Vernehmer entgegnete jedoch, dass dies hier keinen interessiert, weil ihn hier ja niemand hört. Jemand wie er könne mit zwei bis acht Jahren Haft rechnen, abzusitzen in Bautzen, mit Mördern und Schwerverbrechern in einer Zelle. Außerdem habe er mit seiner Flucht, sein Vaterland, die DDR, verraten, den Weltfrieden gefährdet und einen Atomkrieg provoziert. Diesen Satz bekamen fast alle Häftlinge zu hören, um Druck aufzubauen und um sie einzuschüchtern. Heute kann Mario darüber lachen. Damals, hinter zweifach gedämmten Türen und ohne Anwalt war ihm überhaupt nicht zum Lachen zumute.
Nachdem Mario nun alles über die Flucht berichtet hatte, zog der Stasioffizier eine Akte aus dem Schreibtisch. In dieser Akte stand alles über Mario, was die Stasi über ihn wusste. Alle seine Kontakte, Bekannten und Freunde, angefangen vom Sandkastenfreund über den Lieblingslehrer, Arbeitskollegen, Nachbarn, Familie, Freunde. Über jeden wurde Mario nun befragt und sollte Auskunft geben über Dinge wie Stärken, Schwächen, politische Einstellung, Westkontakte (wenn ja, wie oft und zu wem), geplante Fluchtversuche, Kontakte zur Kirche, Schwarzgeschäfte, systemkritische Fragen im Unterricht von Mitschülern, ob Lehrer Diskussionen zugelassen hatten, usw., usw…..

Immer wieder wurde ihm von den Vernehmern erzählt, dass seine Eltern sich von ihm losgesagt hätten und nichts mehr von ihm wissen wollten. Verweigerte er die Aussage, wurde damit gedroht, seine Eltern wegen Mitwisserschaft zu verhaften und seine Schwester gleich mit. Deren Tochter, seine Nichte, müsste dann natürlich in ein Heim. Einmal klingelte, während er gerade in seine Zelle geführt werden sollte, das Telefon und er hörte den Vernehmer sagen: „Die Eltern….? Verhaftet? Musste das sein?“. Auf Marios erschrockene Reaktion „Warum? Sie haben doch mit meiner Flucht nichts zu tun!“ entgegnete der Stasi Offizier: „Das geht Sie gar nichts an. Ach ja, übrigens hat Ihre Mutter Herz-Kreislaufprobleme. Ob sie die Haft hier im Gefängnis übersteht, können wir nicht garantieren. Aber vielleicht sind Sie ja morgen kooperativer.“ Mit dieser Info wurde Mario in seine Zelle und in die Nacht geschickt.
Was Mario damals nicht wissen konnte: Jeder Vernehmer hatte einen Klingelknopf unter seinem Schreibtisch und das Telefonat hatte überhaupt nicht stattgefunden.

Stunden, Tage und Wochen verbrachte Mario in den Verhören, wie alle anderen Häftlinge auch.

Um nichts zu sagen, sich abzulenken und nicht auf das Verhör einzulassen, zählte er die Blätter auf der Mustertapete seines Verhörzimmers. Es waren wohl 582, wenn er sich nicht verzählt hat.
Auch an eben dieser Tapete erkannte Mario 10 Jahre später beim ersten Besuch der Gedenkstätte Hohenschönhausen SEINEN Verhörraum wieder.

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