Wie Mario heute weiß, sollten seine Eltern damals unterschreiben, dass sie jeden Kontakt mit ihm abbrechen. Seine Eltern waren Fachkräfte in einem Volkseigenen Betrieb der DDR. Staatsfeinde innerhalb so einer sozialistischen Vorzeige-Familie passten da nicht in die Vorstellungswelt der Stasi und der Partei. Mario ist sehr stolz auf seine Eltern, dass sie das nicht getan haben, sondern dem Druck widerstanden haben. Viele Andere in vergleichbaren Situationen waren nicht so stark und haben sich, auf Druck der Stasi, von ihren Familienangehörigen losgesagt. Statt Mario fallen zu lassen, haben seien Eltern sogar das Risiko auf sich genommen und seinen Namen an Freunde im Westen weitergegeben. Die sind mit seinem Namen zu der prominenten Anwältin Barbara von der Schulenburg gegangen. Barbara von der Schulenburg hatte gute Kontakte zum innerdeutschen Ministerium und so kam sein Name auf eine Freikaufliste der Bundesrepublik Deutschland für politische Häftlinge in der DDR. Nur wer auf so einer Liste stand, wurde bei offiziellen Stellen namentlich bekannt und konnte freigekauft werden.
Nach „nur“ drei Monaten in Haft wurde Mario dann ziemlich überraschend ohne Urteil, aber mit einer Bewährungszeit von drei Jahren in die DDR entlassen. Als Grund dafür wurde eine Amnestie von 2.000 politischen Gefangenen zum 38. Jahrestag der DDR angegeben. Inoffiziell waren die 2.000 Freigelassenen wohl ein „Geschenk“ oder „Good-Will-Aktion“ von Erich Honnecker aus Anlass seines Besuches in der Bundesrepublik Deutschland im September 1987.
Wie bei seiner Einlieferung in die Haftanstalt wurde er wieder in einen neutralen Lieferwagen verladen, weggefahren und irgendwo in einem Wald heraus gelassen. Mario hoffte, er wäre nun im Westen, musste aber sehr schnell ernüchtert feststellen, als er das Ortsschild von Friedrichshagen sah, dass er fast bei sich zu Hause vor der Haustür war. Auch das war Teil der Erniedrigung gegenüber den Opfern. Bevor Mario in den Westen ausreisen durfte, musste er erst noch einmal eine Zeit lang in der DDR leben.
Mario musste wieder als Hilfsarbeiter arbeiten, immer unter dem Damoklesschwert der Bewährung. Jede kleinste Verfehlung konnte ihn zurück ins Gefängnis bringen. Aus dieser Angst heraus wurde Mario der bravste DDR Bürger, den man sich nur vorstellen kann, begann aber in dieser Zeit, an Veranstaltungen der Kirche in Prenzlauer Berg teilzumehmen.
Am 7. März 1988 gegen 19 Uhr standen dann völlig überraschend zwei Stasileute vor seiner Tür und eröffneten ihm, dass er seine nötigsten Dinge packen solle, er habe die DDR auf der Stelle zu verlassen. Man brachte ihn zum Bahnhof und setzte ihn in einen Zug in die Bundesrepublik. Nicht nach West Berlin, wo er ja immer hin wollte. Man gab ihm noch mit auf den Weg, dass er über das hier Erlebte nicht reden solle. Er solle immer daran denken, dass ein Autounfall auch in München, Stuttgart oder West-Berlin passieren könne. Man würde ihn überall finden. Außerdem kenne man ja auch seine Eltern.
Lange Jahre hat Mario über das Erlebte nicht gesprochen.
Bis Mitternacht habe er die DDR zu verlassen, sonst würde man ihn wieder verhaften und jetzt könne er nur hoffen, dass sein Zug keine Verspätung hätte. Gegen 23:30 kam der Zug im Öbisfelde, dem DDR Grenzposten, an. Der nächste Bahnhof wäre Wolfsburg. Als der Beamte seine Papiere kontrollierte, stellte er fest, dass angeblich ein wichtiger Stempel fehlte. So musste Mario aussteigen, in das Grenzhäuschen gehen, sich nochmals ausziehen und durchsuchen lassen, bis er kurz vor Mitternacht wieder einsteigen und mit dem Zug weiterfahren durfte. Kurz vor Mitternacht überquerte der Zug die Grenze von Deutschland nach Deutschland und am 8. März gegen Null Uhr war Mario im Westen und ein freier Mann. Seit diesem Tag feiert Mario zwei Mal im Jahr Geburtstag.
Leider musste Mario dann schnell feststellen, das sein Freund, wegen dem er all das riskiert hatte, ein Doppelleben führte. Er hatte Frau und Kinder im Westen, die nichts von seiner Homosexualität und ihm wussten, genau wie er nichts von der Familie gewusst hatte. Mario war über Jahre nur der dunkle Teil eines Doppellebens gewesen.
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